Attacke aus der Luft – die Drohnen der Natur. Die Gänsegeier.
Das Organ des Schweizerischen Alpenclubs SAC, die Alpen, widmet ihm einen schönen Artikel. Warum? Oft sieht man ihn von der Leitersprosse eines Klettersteigs aus in unsere Welt hinabschauen. Was denkt er sich dabei? Da weiss man noch nicht.
Spätestens seit Ende August 2022 ist der Gänsegeier zum heiss diskutierten Thema geworden: Gänsegeier haben bei Lumnezia GR an einem noch lebenden, neugeborenen Kalb gefressen. Die Verletzungen waren so schwerwiegend, dass das Kalb eingeschläfert werden musste. Dass Gänsegeier auch an noch lebenden Tieren fressen können, ist spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Die wenigen ausreichend dokumentierten Fälle zeigen aber, dass die betroffenen Tiere schwer verletzt, alt, krank, schwach oder frisch geboren waren. Wenn sich solche Tiere nicht wehren oder nicht verteidigt werden, kann es vorkommen, dass Gänsegeier bereits zu fressen beginnen, bevor das Tier tot ist. Verteidigte oder gesunde Tiere, die gut gehen können, gehören nicht in das Nahrungsspektrum des Gänsegeiers. (Vogelwarte)
Was die Wissenschaft zu ihm sagt, was der Bauer zu ihm sagt. Der Bauer, der seinen Alltag je nachdem mit diesem Tier verbringt. Gänse sind nicht allzu häufig anzutreffen, hier im Land und noch weniger am Berg. Hühner wieder vermehrt. Man muss dazu wissen, dass vor etwa 50 Jahren beinahe keine Hühner mehr auf den Berghöfen gehalten wurden. Das Ei war im Volg billiger. Für die Hühner gibt es den Hühnervogel, den Hennegyr. Der holt sie wirklich. Nun, nachdem die Bauersfrauen damit anfingen ihre Eier im Volg zu holen, drohte der Hennegyr auszusterben.
Nachdem soeben in einer Art Krieg 100 Wölfe abgeschossen worden sind, hält man sich seitens der Wolfsskeptiker zurück, man scheut sich, mit der Forderung nach der totalen Liquidierung an die Öffentlichkeit zu gehen. Um die Brutalität der Natur, welche sich uneinsichtig zeigt, weiterhin spektakulär anzuprangern, bedient man sich jetzt dieser Geier. Weiss der Geier, wieso. Die einen bezeichnen die Natur als unschuldig, sie habe kein Schuldbewusstsein, die anderen wollen über solcherlei gar nicht erst nachdenken. Sie sagen von sich: wir leben mit der Natur. Tag für Tag. Gehen früh zu Bett und stehen früh auf. Um zu arbeiten und Arbeit erhält uns gesund. Für die Erhöhung der Krankenkassenprämien, zum Beispiel, sind wir nicht verantwortlich. Rote Winde meint dazu: bleiben wir beim Thema.
Beim Geier ohne Gänse, Gyp fulvus. Der nach Gänsen Ausschau hält und keine findet. Wohl am falschen Ort sich befindet. Die Vogelwarte, Freund:in aller Vogelarten, sagt:
Als Aasfresser hatte der Gänsegeier früher einen schlechten Ruf. Langsam setzt in der Bevölkerung jedoch ein Sinneswandel ein und in mehreren Regionen nimmt der faszinierende Greifvogel wieder zu. Er ist bestens an das Ausnehmen von Kadavern angepasst: Der Kopf und der lange Hals sind nur leicht befiedert und eine Halskrause schützt den restlichen Körper vor Verschmutzung. Die Vögel suchen systematisch ein Gebiet ab, ohne dabei Artgenossen oder kleinere Suchflieger wie Milane, Kolkrabe und Schmutzgeier aus den Augen zu verlieren. So finden Gänsegeier viele Kadaver auch in strukturiertem Gelände in überraschend kurzer Zeit.
Schön, wenn auch etwas militärisch, ist der Ausdruck Suchflieger, wie auch strukturiertes Gelände. Allein für die Wortwahl lieben wir die Wissenschaft. Falsch dürfte wohl die Annahme sein, dass der Geier einen guten Ruf hat. „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“, denkt der sich und macht sich demzufolge, eben aus Mangel an Gänsen, an in der Berglandschaft präsente Tiere zu schaffen. Lämmli und Kälbli.
Noch etwas zum oben seitens der Vogelwarte nicht erwähnten Bartgeier. Er hiess früher, bevor er ausgestorben wurde und von den Grünen/WWF wieder ausgesetzt, Lämmergeier. Weil er den Bauern die Lämmer wegfrass. Die Grünen haben ihn dann umbenannt. In Bartgeier. Nun lässt er es sein, das mit den Lämmern. Die Sache mit dem Bart sorgte anfänglich für Irritation. Manch ein Bauer begannen sich zu rasieren.
Ein weiterer von der Vogelwarte erwähnter Geier: der Schmutzgeier, auch er als Aas fressend und nicht jagend kartiert, hat den von den Bäuer:innen bevorzugten Status: regional ausgestorben.
Zwischen der Vogelwarte und der Wissenschaft gibt es Widersprüche, vielleicht ist es aber nur ein unsorgfältiger Umgang mit Sprache. So bezeichnet die Vogelwarte im obigen Text den Gänse-Geier als Greifvogel. Die Wissenschaft schliesst gerade bei diesem Vogel das Beutegreifen aus: «Zum Jagen ist er hingegen nicht gemacht, die stumpfen Krallen eigenen sich lediglich zum laufen. Zudem ist er zwar ein guter Segler, aber eng navigieren, wie es für die Verfolgung von Beute nötig wäre, kann er mit seinen kurzen Schwanzfedern nicht». Weiter stellt die Vogelwarte einen «Sinneswandel» in der Bevölkerung fest. Eine wohlwollende Annahme, mit der sich sicher besser schlafen, aber nicht leben lässt. Als Vogelfreund.
«Skeptisch bis ablehnend begegnet man ihm zum Teil in den Bergtälern». Der Gänsegeier hält sich gern in grosser Anzahl im Umfeld grosser Tierherden auf. Was machen die da, fragt sich berechtigterweise der Bauer? Er vermutet, dass sie nicht zum Eier legen gekommen sind. Weiter ist er auch skeptisch gegenüber den Geisteswissenschaften, zu denen man fälschlicherweise sämtliche biologischen Ausrichtungen zählt, bedient sich aber andererseits gern und wohlwollend bei den Errungenschaften der Ingenieurwissenschaft, auch Naturwissenschaften genannt: Hydraulik, Rundballenpresse, Dieselmotor, Laubbläser etc.
Der Gänsegeier kann in Ansammlungen bis zu hundert Tieren angetroffen werden. Auf Abstürze und tödliche Seuchen hoffend. Zur Sommerszeit sollen bei uns einige Hundert sömmern. Und wenn nichts läuft, erschreckt der Geier die am Rande eines Abgrundes unschuldig weidende Gruppe von Schafen, indem er sie im Tiefflug von hinten anfliegt, sie so in Panik versetzt. Worauf diese in panischer Flucht die Felswand hinunterstürzen, sich in Kadaver verwandelnd. Ha, sagt der Gänsegeier. Der Hinterlistige.
Zu diesem oben beschriebenem bekannten Vorfall im Berner Oberland, dessen Sachverhalt nicht klar eruierbar ist, im Gegensatz zum Kalbsvorfall im Oberland, meint die Wildbiologie: Es scheine fraglich, ob der Gänsegeier, sein Verhaltensrepertoire betrachtend, bewusst Nutztiere in den Tod treiben würde. Allerdings scheine es durchaus im Bereich des Möglichen, dass Schaf und Ziegenherden auf Gänsegeier, die plötzlich über einem Bergrücken erscheinen, mit Panik reagieren.
Was also wirft der Bauersmann dem Gänsegeier (zuerst der Wolf und jetzt haben wir noch den Gänsegeier dazu) vor?
Er ist nun einmal – weiss der Geier, wieso – da, auf dieser Welt. Ein Produkt der Schöpfung. Die Verwertung von Kadavern mag hochzivilisierte (siehe Laubbläser) Menschen wenig ansprechen. Auf unseren Alpen müssen verendete Tiere innert kürzester Zeit Richtung Kadaver-Verwertungsanlage abtransportiert werden. Auf der iberischen Halbinsel überlasse man diese kostspielige Aufgabe dem Geier und in Ländern Zentralasiens hat er eine wichtige Funktion bei der Luftbestattung der verstorbenen Menschen. Wegen Mangel an Brennholz oder harter Steppenböden werden Tote heute noch den Geiern zum Fressen überlassen.
Der Gänsegeier macht seinen Job. Wie wir alle auch. Doch auch er sollte sich zwischendurch Gedanken machen. Über sein Verhaltensrepertoire.